„Bald kann ich nicht mehr, meine Kräfte schwinden“, schreibe ich in mein Notizbuch. Ich habe doch so lange durchgehalten. Das kann noch nicht das Ende sein. Das darf nicht das Ende sein. Ich muss weiter gehen, ich darf nicht aufgeben.
Ich kenne alles nur noch aus Erzählungen, alles was man mir erzählt hat, habe ich in mein Notizheft geschrieben. In meinem Buch ist alles festgehalten. Früher hat man so viel Fleisch gegessen, dass wir unser Klima damit irreparabel geschädigt haben. Es ging alles ganz langsam, Jahr für Jahr wurden die Hitzerekorde gebrochen. Die reichen Menschen versuchten einen Zufluchtsort für sich zu finden. Viele kauften sich abgelegene Inseln, auf die sie sich zurückziehen konnten. Die Umweltverschmutzung und die Klimaschädigungen gingen derweil ungezügelt weiter.
Früher soll hier alles grün gewesen sein. Aber das ist schon hunderte von Jahren her. Gerne schaue ich in mein Buch, in dem ich auch gefundene Fotos sammle. Ich habe sie nicht selber gemacht. Aber es sind wunderschöne Bilder. Aufnahmen von grünen Wiesen, von Bäumen und Tieren, von Blumen und Flüssen. Manchmal träume ich davon, in dieser Welt zu sein. Dann wache ich nachts auf und muss wegen des vielen Sands in meinen Lungen husten. Wie gern hätte ich in dieser gesegneten Zeit gelebt.
Meine Großmutter hat mir oft davon erzählt, was ihr von ihren Eltern berichtet wurde. Damals gab es Flugzeuge, mit denen man um die Welt fliegen konnte. Sicher, schnell und bequem. Jeder hatte ein Auto. Ich habe auch schon viele Autos gesehen, man kann darin super schlafen. Aber viel mehr kann man damit auch nicht anfangen. Als die Infrastruktur zusammengebrochen ist, gab es kein Erdöl mehr. Und ohne Erdöl keine funktionierenden Autos. So hat es mir zumindest meine Großmutter immer wieder erzählt. Mein Magen beginnt zu knurren. Mein Mund ist ganz trocken. Ich nehme einen kleinen Schluck aus meiner Trinkflasche. Ich habe noch etwa einen halben Liter Wasser, mein letzter Vorrat.
Als der Meeresspiegel stieg, sind die Menschen geflüchtet. Am wenigsten zu lachen hatten damals die Reichen auf ihren Inseln, die sind einfach untergegangen. Die Menschen, die in der Nähe der Küste gelebt hatten, sind tief ins Landesinnere geflohen, in der Hoffnung, ein neues Zuhause zu finden. Doch dort wollte sie niemand aufnehmen. Die Menschen im Landesinneren hatten mittlerweile ihre eigenen Probleme: gigantische Ernteausfälle, einen schwindenden Grundwasserspiegel und kein Geld. Mit Geld konnte man früher alles lösen, heute gibt es keines mehr. Geld kann man schließlich nicht essen. Entsprechend hat es seinen Wert in der heutigen Welt vollständig verloren. Meine Oma hat mir erzählt, sie habe einmal so viel Geld verbrannt, davon hätte man früher ein ganzes Haus bauen können. Aber ihr war kalt, deshalb hat sie es angezündet. Zumindest dazu war es noch nützlich. Kalt war mir seit Monaten nicht mehr. Selbst nachts wird es nicht mehr richtig kühl.
Die Böden wurden immer trockener und trockener, die Ernteerträge kleiner und kleiner. Damals versuchte man noch über Jahrzehnte, mit allen Mitteln den Wandel zu stoppen. Die Menschen hatten eingesehen, dass sie so nicht weiter machen konnten, dass sie dabei waren, ihren eigenen Planeten zu zerstören. Aber es war zu spät, der Klimawandel war bereits nicht mehr aufzuhalten. Alle Anstrengungen waren umsonst.
Nachdem niemand den Flüchtlingen helfen wollte, begannen diese zu plündern. Sie waren schließlich am Verhungern. Die Situation eskalierte weltweit, es gab unzählige Tote. Millionen von Flüchtlingen sollen auf Befehl der Regierungen erschossen worden sein, so hat es zumindest meine Oma erzählt. Die Weltwirtschaft brach zusammen, niemand lieferte mehr Lebensmittel an andere, jeder behielt das, was er noch hatte und versuchte irgendwie zu überleben. Es gab kein Heizöl mehr, und das Essen ging aus. Im ersten Winter sind unzählige Menschen erfroren und verhungert. Meine Oma hat mir erzählt, dass es früher eine so genannte Polizei gab. Die hat aufgepasst, dass sich die Menschen nicht gegenseitig erschlugen. Aber auch die konnte damals nicht mehr viel ausrichten, es gab einfach zu viele Menschen und zu viele Probleme. Als das Essen zur Neige ging, sind die Menschen durchgedreht. Sie haben ihre Hunde gegessen und ihre Nachbarn erschlagen, um an deren Dosenvorräte zu kommen. Manche sollen auch andere Menschen gegessen haben. Plünderer sind durch die Länder gezogen, haben Schwächere hingerichtet und sich von ihnen alles genommen, was sie brauchten.
Ich sehe in der Ferne ein Haus. Das letzte, in dem ich Unterschlupf gesucht hatte, wurde vor einigen Tagen durch einen Sturm verwüstet. Seitdem bin ich verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Und ich werde auch bald etwas finden müssen, sonst war es das für mich. Ich beschleunige mein Schritttempo.
Ich schlage mein Notizbuch auf und sehe die Zeichnungen an, die ich von meiner Frau und meiner kleinen Tochter angefertigt hatte. Sie waren meine große Liebe gewesen. Meine Hoffnung, dass doch noch alles gut wird. Beide sind vor einigen Monaten auf der Suche nach etwas Essbarem in einem Sandsturm umgekommen. Das war das letzte Mal gewesen, dass ich einen Menschen sah. Ob es noch mehr Menschen gibt? Ich weiß es nicht. Vielleicht irgendwo. Es gab immer Gerüchte über Schiffe, die über das Meer fahren. Auf denen soll es noch Menschen geben, die sich von Fischen ernähren. Aber es sind nur Gerüchte. Vielleicht bin ich auch der letzte Mensch auf dieser Welt.
Ich erreiche das Haus, die Tür steht offen. Die Wahrscheinlichkeit, hier etwas zu essen zu finden, ist gering. Aber es wird dunkel. Ich muss mir einen Unterschlupf suchen, in dem ich sicher schlafen kann. Ich nehme den letzten Tropfen Wasser aus meiner Trinkflasche und beginne das Haus – oder das, was von ihm übrig ist – zu durchsuchen.
Der größte Witz an meiner Situation ist ja, dass ich sie gar nicht selbst verschuldet habe. Ich kann nichts dafür, dass diese Welt so ist, wie sie ist. Dass so gut wie nichts mehr wächst. Dass überall nur noch Sand ist und unerträgliche Hitze herrscht. Die Menschen, die daran schuld sind, starben lange vor meiner Zeit. Sie konnten nie genug bekommen und haben es sich auf meine Kosten gut gehen lassen. Auf Kosten meiner Frau und meiner Tochter. Die Rache der Erde zögert sich eine Weile hinaus, dann aber kommt sie mit ganzer Macht. Dieser geschundene Planet lässt seine ganze Wut jetzt an uns aus, während die eigentlich Schuldigen bis ins hohe Alter unsere Ressourcen verschwendet haben. Meine kleine Tochter hat den Preis dafür bezahlt.
Im Keller finde ich einen verschlossenen Raum. Ich trete die Türe ein, die fast ohne Widerstand in sich zusammenbricht. Hinter der Tür finde ich einen Vorratsraum. Dosen über Dosen. Ich schleppe mich mit letzter Kraft in den Raum, hole meinen Dosenöffner heraus. Es sind lauter Fleischkonserven. Ironisch, aber ich habe keine Wahl. Lieber esse ich dieses Fleisch, als dass ich verhungere. Auch wenn es mich davor ekelt. Ich mache eine Dose auf, doch mir kommt ein unerträglicher Gestank entgegen. Ich mache Dose um Dose auf, doch alle sind verdorben. Sonst gibt es hier nichts mehr. „Soll das wirklich das Ende sein?“, schreibe ich mit letzter Kraft in mein Notizbuch.
"Das ist der Anfang vom Ende."
William Shakespeare - (1564 – 1616) - Englischer Dichter